Für Christoph Meckel (1935–2020) spielte die Bildende Kunst zeitlebens eine genauso wichtige Rolle wie die Literatur. Von den Nachkriegsjahren bis in die globalisierte Welt kommentierte Meckel das Zeitgeschehen bildnerisch als anklagender Beobachter, getragen von Empathie, Witz und Ironie, aber auch voller Zweifel und Widerspruch. Nicht verwunderlich, bezeichnete er sein grafisches Gesamtwerk als Weltkomödie – in Anlehnung an Dante Alighieris Göttliche Komödie. Es ist ein gigantisches Projekt, das die bildgewaltige über 2000 Blätter zählende Weltkomödie umfasst, die über mehrere Jahrzehnte entstanden ist: Zyklen, Diptychen und Triptychen, Zeichnungen, Radierungen, Lithographien und Holzschnitte. Sie sind durchzogen von subjektiven Beobachtungen und dem gesellschaftlich politischen Geschehen seiner Zeit. Christoph Meckel strebte "eine epische, erzählerische Dimension [an]. Keine illustrative. Der Unterschied zeigt sich in der Gestaltung. Form"1, resümierte er.
Ausstellungsansicht, Foto: Bernhard Strauss
Die Ausstellung zeigte erstmals seine großformatigen Holzschnitte aus den frühen 1960er Jahren sowie zwei Serien von Radierungen: Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (1973) und Die Rechte des Kindes (1993–94) – Themen, so aktuell und brisant wie eh und je. In unterschiedlichen Jahrzehnten entstanden, steht im Mittelpunkt der Mensch, mit seinen Widersprüchen, Zweifeln und Hoffnungen. Unheimlich, düster wirkende Männer mit Maske und Messer lassen uns schaudern. Vielteilige Szenen fordern unseren näheren Blick, laden uns zum Entdecken ein. Es sind subjektive Bilder voller (alp-)traumhafter und hoffnungsvoller Eindrücke – lebendige Bebilderungen mittels eines überaus eigensinnigen Bilder- und Formenkanons. Den Werken ist eine erzählerische Dimension eigen, eine gesellschaftliche, politische und vor allem eine ihre Entstehungszeit kommentierende.
Mensch-Sein : Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (1973)
Verschiedene Bildebenen verbinden sich zu vielfältigen Erzählungen. Widersprüchliches, Zusammengehöriges, gar Erweiterndes verquickt sich miteinander im immer gleichen Bildformat. Nicht eins zu eins auf den jeweiligen Artikel abzielend, schafft Christoph Meckel keine Illustrationen der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, sondern kreiert 31 Bebilderungen – wie er es nennt – mit zeitkritischer, politischer und humaner Dichte. Die Menschenrechte, die am 10. Dezember 1948 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verkündet wurden, zu kommentieren, war ihm ein persönliches Anliegen. Als "menschliches Ding", als "Apell ohne Zeigefinger" versteht er die Radierungen, die an die Sozialkritik der 1920er Jahre in den Werken von George Grosz anknüpfen und doch ihren ganz eigenen Kosmos schaffen.
Mittels der Bebilderung suchte Meckel die 30 Artikeltexte "einsehbar" zu machen. Sein Blickwinkel ist jedoch äußerst subjektiv und geprägt von der westdeutschen Gesellschaft der frühen 1970er Jahre. Es sind eigensinnige, teils heitere bis kompromittierende, alptraumhafte und sarkastische Szenarien. Sie stehen im Kontrast zu den idealen Wunschbildern des menschlichen Miteinanders, die in der weltweiten Erklärung zusammengetragen wurden.
Ausstellungsansicht, Foto: Bernhard Strauss
Kind-Sein : Die Rechte des Kindes (1993–94)
Spielerisch fröhlich und zugleich bedrohlich erscheinen die Radierungen der Rechte des Kindes. Zum Leben erweckte gezeichnete Gestalten und Tiere, Kinder und Erwachsene vereinen sich zu vielteiligen Szenarien, in denen Momente des Spiels und der Ruhe mit Momenten von Gewalt und Leid konterkariert werden – was sie umso grausamer wirken lässt. Das Anschauen der 28 Radierungen evoziert zuerst Vergnügen, durchsetzt von Irritation, Widerspruch, Kritik, gar Selbstkritik. Die eigene Kindheit soll reflektiert, die eigenen Wunden offengelegt werden – so die Intention Christoph Meckels, der Die Rechte des Kindes auf Eigeninitiative bebilderte.
Ähnlich wie die Radierungen zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte machen die Bebilderungen die sprachlich starren Artikel der Konvention "einsehbar", die am 20. November 1989 von den Vereinten Nationen verabschiedet wurden und aus der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte hervorgingen. Auch hier schafft Meckel keine eins zu eins Übersetzungen. Vielmehr treten die Verbindungen zwischen Text und Bild allmählich zu Tage. Zwar sind es die Artikel der Rechte des Kindes, doch sprechen sie ebenso die Erwachsenen an. In einem Nachwort plädiert der Künstler für eine gemeinsame Betrachtung.
Ausstellungsansicht, Foto: Bernhard Strauss
Der Ausstellung zugehörig war ein Parcours, der den Ausstellungsraum aktivierte. Auf intuitive Art und Weise sollte sich an das Thema der Kinder- und Menschenrechte herangetastet werden und die Besucher*innen wurden animiert ihre eigene Rolle in der Gesellschaft zu reflektieren: Wie setzt sich eine Gesellschaft zusammen? Wo höre ich auf, wo fängt der*die Andere an? Gibt es einen Raum, der nur mir gehört? Wo fängt mein Schutzraum an? Andere nehmen mich anders wahr als ich mich, also wie sehe ich wirklich aus? Wie und wo verorte ich mich im Raum, in meiner Umgebung, in der Welt?
Ausstellungsansicht, Foto: Bernhard Strauss
Ich-Sein : Holzschnitte (1960er Jahre)
Gestalten, halb Mensch, halb Tier, Männer mit Maske und Messer, ein gepanzerter Engel. Ihre tiefe Schwärze, die uns mit schmalen Augen beobachtenden Figuren lassen uns kurz zusammenzucken. Ihre Formen klar und einfach und groß. Es ist das Monumentale, das Extrovertierte, das uns in den Bann der Holzschnitte zieht: Männer, umhüllt von schwarzen Gewändern, ihre Mienen starr, ihre Blicke verborgen hinter Masken, in der Hand ein Messer. Auf der Flucht ein Engel, der sich mit großen Händen und Füßen auf einer viel zu kleinen Leiter emporzuhieven versucht. Ein anderer Engel ist gepanzert, die zerstörerische Kraft von außen scheint an ihm abzuprallen und schlussendlich ist da der Tod, der mit einer Sonnenblume in der Hand an uns beinah vorbei schlendert.
Christoph Meckel, Foto: Nachlass
Zugleich schwingt eine subtile Annäherung an ein ganz persönliches Thema Christoph Meckels mit: Die persönliche Beziehung zu seinem Vater, die er in diesen Holzschnitten in ein Generationenthema überführt und die er literarisch in seinem Werk Suchbild. Über meinen Vater (1980) aufarbeitete. Dessen "Zerbrochenheit quälte die Kinder (sie wußten noch nicht, daß diese Vaterschaft – der entthronte, hilflos gewordene Despot – bezeichnend war für die ganze Generation). Daß er sie liebte, erschwerte ihren Protest. Ratlosigkeit vieler Jahre, Beklommenheit. Die Luft blieb weg, das Lachen setze aus."2 Nebenangestellt erscheinen die Arbeiten Herrscher der Füchse und Eule nicht als reine Tierabbildungen, sondern als Allegorien für menschliches Befinden und Verhalten: Weisheit, Klugheit, List und Tücke. Sünde, Tod und Einsamkeit.
Christoph Meckel, Tagebucheintrag
Zur Biografie von Christoph Meckel, geschrieben und eingesprochen von Werner Witt
Das Kommentierende
Die Ausstellung Christoph Meckel. Mensch-Sein, Kind-Sein, Ich-Sein sucht nach einem gegenwärtigen Blick; holt die Graphiken des Künstlers auf einer Metaebene thematisch in die Jetzt-Zeit. Sind die ausgestellten künstlerischen Werke als eine Art Kommentar auf die jeweiligen Themen und Sachverhalte zu lesen, ist es uns ein Anliegen, diese Kommentarebene in unterschiedlichen Perspektiven auch in Wort und Bild sichtbar zu machen: Begreifen wir die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte als ein dynamisches Dokument, das vor über 70 Jahren vereidigt wurde, so war es mit Blick auf aktuelle Diskurse nur eine Frage der Zeit, dass die deutsche Sprache einem kritischen Blick unterzogen wird. 2019 veröffentlichte Amnesty International eine diskriminierungssensibel überarbeitete deutsche Übersetzung des weltweiten Handlungsmaßstabs – die Umformulierungen sind hervorgehoben.
Ausstellungsbroschüre, Auszug
Die Organisation UNICEF fasste die Artikel der Kinderrechte zu den zehn Wichtigsten zusammen. Exemplarisch sind einige Blätter Meckels mit den Schlagwörtern zusammengebracht – die oft auch anders zugeordnet werden könnten.
Ausstellungsbroschüre, Auszug
Mittels Wort und Schrift werden auch die Holzschnitte kommentiert. Durch Tagebucheinträge, Gedichte und Auszüge aus dem literarischen Schaffen wird der Schriftsteller Meckel mit dem Künstler Meckel zusammengezogen.
Plakatwand im Außenraum, Foto: Bernhard Strauss
Impressum
Dieses Online-Album erscheint anlässlich der Ausstellung:
Christoph Meckel. Mensch-Sein, Kind-Sein, Ich-Sein
Eine Ausstellung des Museums für Neue Kunst im Haus der Graphischen Sammlung, Städtische Museen Freiburg, 5. März bis 19. Juni 2022
Gesamtleitung: Tilmann von Stockhausen / Christine Litz
Konzeption: Sarah Lorbeer / Isabel Herda
Ausstellungstexte: Sarah Lorbeer
Ausstellungsmanagement: Mirja Straub
Konservatorische Betreuung: Juliane Hofer / Selina Dieter
Konservatorische Ausstellungsbeleuchtung: Kai Miethe
Medientechnik: Andreas Berger
Zentrale Werkstätten: Ansgar Brandstädter und Team
Museumspädagogik: Beate Reutter
Ausstellungsszenografie: Jens Burde
Grafische Gestaltung: Ronja Andersen / Marius Schwarz
Grafikproduktion: Werbetechnik Baden
Übersetzungen: Timothy Connell / Julia Walter
Nachweise
1 Christoph Meckel, Tagebucheintrag vom 4.7.63 [Deutsches Literaturarchiv Marbach, unveröffentlicht], mit freundlicher Genehmigung von Gila Funke-Meckel.
2 Christoph Meckel, Suchbild. Über meinen Vater [1980], Frankfurt am Main 2012, S. 123.