Die Sonderausstellung "Handle with Care" (1. Juni 2022 – 22. Januar 2023) beleuchtete verschiedene Facetten von sensiblen Objekten in der Ethnologischen Sammlung des Museum Natur und Mensch und ging der Frage nach, wie heute mit diesen umgegangen werden soll und kann.
Sensible Sammlungen?
Koloniale Raubkunst, Provenienzforschung und sensible Sammlungen: Ethnologische Museen und Sammlungen sowie die von ihnen verwahrten Objekte stehen in den letzten Jahren wie nie zuvor im Fokus einer kritischen Öffentlichkeit. Wie geht die Ethnologische Sammlung des Museums Natur und Mensch mit diesen sensiblen Objekten um?
Im Kontext von musealen Sammlungen kann "sensibel" viele verschiedene Facetten umfassen, wie die Umstände des Erwerbs und der Entstehung von Objekten, die kulturspezifische Bedeutung oder auch, wie im Fall von menschlichen Überresten, ihre Materialität. Die ausgewählten Beispiele in der Ausstellung verdeutlichen hierbei die Verantwortung, Herausforderungen, aber auch die Chancen, die die Auseinandersetzung mit sensiblen Objekten mit sich bringt. Sie alle bedürfen eines respektvollen und an der Bedeutung in den Herkunftsgesellschaften orientierten Umgangs. Neue Informationen, Kooperationen oder auch Umdeutungen verändern dabei immer wieder das Verständnis von Sensibilität in Herkunftsgesellschaften und in Museen. Die Aufarbeitung sensibler Objekte und Sammlungen ist daher ein dynamischer sowie vielschichtiger Prozess und ein zentraler Bestandteil ethnologischer Forschung und Museumsarbeit.
Sensible Herkunft - Was macht Sammlungen historisch sensibel?
Objekte und Sammlungen gelten als historisch sensibel, wenn sie an Orten und in Zeiten gesammelt, erworben oder hergestellt wurden, die durch eine massive Machtungleichheit geprägt waren. Die Bandbreite reicht dabei vom Einfluss diskriminierender Ideologien wie beispielsweise dem Rassismus, über Unterdrückung oder Krieg bis hin zum Völkermord.
Die Sammlungen ethnologischer Museen entstanden zu einem Großteil innerhalb von kolonialen Kontexten und sind damit historisch sensibel. Sie können dabei Objekte aus sehr unterschiedlichen Erwerbsumständen umfassen: Sowohl Gegenstände, die unter Zwang oder Anwendung von Gewalt geraubt wurden als auch solche, die die Mitglieder der Herkunftsgesellschaften für den Handel anfertigten. Um diese Umstände beurteilen zu können, betreiben Museen Provenienzforschung und untersuchen, von wem und auf welche Weise Sammlungen erstellt wurden. Auch die Umstände der Herstellung, des Gebrauchs der Objekte in den Herkunftsgesellschaften sowie ihre Bedeutung werden erforscht. Die Zusammenarbeit mit Vertreter_innen der Herkunftsgesellschaften spielt hierbei eine wesentliche Rolle. Deren eigene Perspektiven und Deutungen erweitern das Verständnis der Objekte in Vergangenheit und Gegenwart auf wichtige Weise.
Ein aktuelles Forschungsprojekt, das am Museum Natur und Mensch durchgeführt wird, beschäftigt sich mit Objekten, die von einem einem Sammlerehepaar während der deutschen Kolonialherrschaft in Ozeanien zusammengetragen und 1901 dem Museum vermacht wurden. Mehr zum Provenienzforschungsprojekt "Provenienzforschung zur Ozeanien-Sammlung Eugen und Antonie Brandeis", gefördert durch das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste (2020–2022), finden Sie hier.
Die Frage nach den Erwerbungsumständen steht im Mittelpunkt der Provenienzforschung. Hierfür ist zunächst die Art des Erwerbs zu klären. Im Falle dieses Bronzekopfes aus dem Königreich Benin ist diese eindeutig. Die Hauptstadt des Königreichs Benin wurde 1897 von britischen Truppen während einer sogenannten Strafexpedition überfallen und zerstört. Über 4.000 Bronze- und Elfenbeinarbeiten wurden geraubt. Viele gelangten über den Handel auch in deutsche Museen. Das damalige Museum für Natur- und Völkerkunde kaufte den Gedenkkopf bei dem britischen Antiquitäten- und Waffenhandelsgeschäft Fenton & Sons, das geraubte Bronzen aus dem Königreich Benin weiterverkaufte. Nigeria fordert die Rückgabe dieses Raubguts.
Die Ethnologische Sammlung befürwortet die Restitution von unrechtmäßig entzogenem und zurückgewünschtem Sammlungsgut. Deshalb stellt sie proaktiv Informationen zu Objekten aus dem Königreich Benin auf entsprechenden Plattformen wie der "Datenbank für Benin-Bronzen in Deutschland" zur Verfügung.
Die Entstehungsgeschichte ethnologischer Sammlungen in Deutschland ist eng mit der deutschen Kolonialherrschaft verknüpft. Museen nutzten zum Erwerb ihrer Sammlungen das Netzwerk deutscher Personen, die sich in den Kolonien und in kolonialen Kontexten aufhielten. Sie wurden von Museen gezielt angesprochen und um Objekte gebeten.
Diese suona, ein Holzblasinstrument, das unter anderem bei Hochzeits- und Bestattungszeremonien gespielt wird, erhielt das Museum von Karl Dürr (1854 - 1919). Als stellvertretender Gouverneur der Stadt Tsingtau (Quingdao) war er in der ehemaligen deutschen Kolonie Kiautschou in Ost-China tätig. 1898 wurde er von den Museumsgründern gebeten, dort Objekte für das Museum zu erwerben. Er überließ dem Museum daraufhin mehrere Schenkungen, jedoch ohne Hinweise auf die Erwerbungsumstände.
Welches Tier ist auf der Knopfdecke zu sehen? Welche Bedeutung hat es für die Haida? Um die Fragen zum dargestellten Tiermotiv, einer Kröte, zu klären, hat die Ethnologische Sammlung das Haida Gwaii Museum in Kanada kontaktiert. Dadurch entwickelte sich eine Zusammenarbeit zur Erforschung der Provenienz des Objektes. Haida Weber und Repatriierungsmanager des Haida Gwaii Museums aay aay Albert Hans beschreibt die Bedeutung der Knopfdecke folgendermaßen:
"Sie wurden eigens angefertigt, um sie auf Potlatches zu übergeben, und als Gegenleistung zahlte man mit Totempfählen oder Kanus. Nun zeigen sie uns, wer wir als Stamm sind, mit unseren Motiven auf dem Rücken. Heute überreicht man sie Schülern bei einem Anlass, den wir Haida Grad nennen. Da feiern wir den Abschluss von der Highschool, bevor die Schüler aufs College oder zur Universität wechseln. […] Bei dieser Gelegenheit bekommen die Schüler von ihren Familien auch ihre Haida-Namen."
Für die Sonderausstellung drehte die Haida-Filmemacherin Julia Weder einen Film über die Bedeutung der Knopfdecken für die Haida in der Gegenwart.
Sensible Bedeutung - Welche kulturspezifische Bedeutung macht das Objekt sensibel?
Objekte können auch aufgrund ihrer kulturspezifischen Bedeutung sensibel, zugangsbeschränkt oder besonders schützenswert sein. Die Ausstellung beleuchtet verschiedene Facetten von kulturspezifischer Sensibilität. Sie haben weitreichende Konsequenzen für fast alle Felder der Museumsarbeit, wie Ausstellen, Vermitteln, Bewahren und Forschen in ethnologischen Sammlungen. Die Frage nach kulturspezifischen Bedeutungen verschiebt den Fokus von rein musealen Anforderungen auf einen ethischen und respektvollen Umgang aus Perspektive der jeweiligen Herkunftsgesellschaft. Das bedeutet: Der Umgang mit Objekten im Museum soll die Bedeutung für die jeweiligen Herkunftsgesellschaften berücksichtigen.
Die Redyo-Masken wurden für das warime-Ritual hergestellt und genutzt. Außerhalb des Rituals wurden die Masken vor Nichteingeweihten geheim gehalten. Das warime wird aufgrund sozialen Wandels und Missionierung nicht mehr ausgerichtet. Die Masken werden schon seit den 1980er Jahren für den Verkauf gefertigt. Der Ausschluss und die Beschränkungen von geheim-sakralen Objekten können auch für Personen gelten, die nicht der Herkunftsgesellschaft angehören, wie dem Museumspersonal. Für die Museumsarbeit hat das tiefgreifende Folgen, denn die kulturspezifischen Normen beeinflussen, unter welchen Bedingungen zugangsbeschränkte Objekte erforscht, gepflegt oder gezeigt werden können oder dürfen.
Als Verwahrer der Objekte versucht das Museum, kulturspezifische Verständnisse zu reflektieren und sie zu berücksichtigen. So auch bei Tabakspfeifen, die heilige Objekte sein können. Ihr Rauchen ist eine sakrale Handlung. Bereits das Zusammenstecken der einzelnen Pfeifenteile ist für die Dakota der Beginn des Rituals. Daher bedarf die Pfeife einer besonderen Aufbewahrungs- und Ausstellungsweise im Museum: Sie darf zwar gesehen, jedoch nicht zusammengesetzt werden.
Sensible Abbilder und menschliche Überreste. Welche Verantwortung haben Museen im Umgang mit menschlichen Überresten oder Abbildern?
Vor allem in der Vergangenheit gingen auch menschliche Überreste sowie Darstellungen von Menschen in ethnologische Sammlungen ein. So wurden insbesondere Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts große Bestände historischer Fotografien aufgebaut, die oftmals von den kolonialen Kontexten ihrer Entstehung zeugen. Menschliche Abbilder wurden ebenfalls in dreidimensionaler Form, genannt Figurinen, angefertigt, gesammelt und ausgestellt. Neben den bloßen Abbildern hatten Museen auch ein besonderes Interesse an menschlichen Überresten. Zur Ethnologischen Sammlung in Freiburg gehört zwar keine anthropologische Sammlung. Dennoch sind auch in ihr menschliche Überreste bewahrt. Sie sind die Vorfahr_innen und Familienangehörigen von Menschen aus Herkunftsgesellschaften. Der ethisch verantwortungsvolle und menschenwürdige Umgang mit diesen Objekten ist eines der sensibelsten Arbeitsfelder des Museums.
Scheinbar realistisch vermittelten lebensgroße Figurinen den Besuchenden den Eindruck, von Angesicht zu Angesicht Menschen aus fernen Ländern zu begegnen. Daher galten Figurinen und Dioramen besonders zu Anfang des 20. Jahrhunderts als beliebte Attraktion in Museen. Sie wurden frei oder als Abbilder realer Personen modelliert. Der in Freiburg ansässige Bildhauer Friedrich Meinecke (1878–1913) verwendete bei der Herstellung der "Wedda-Frau" Fotografien des Schweizer Anthropologen Fritz Sarasin (1859–1942). Ohne ihre Zustimmung wurde diese individuelle Person zu einem anonymen Modell. Festgeschrieben in Zeit und Raum, sind Figurinen stereotypisierende Darstellungen von Menschen, die die Vorstellung der Museumsbesucher_innen von dem "Anderen" prägten.
Viele historische Fotografien dokumentieren die Unrechts- und Gewaltkontexte, in denen die Aufnahmen entstanden. Das Portrait zeigt die 65-jährige Truganini von Bruni Island, eine der berühmtesten Anführerinnen im Widerstand gegen die Vertreibung der Tasmanier_innen durch weiße Siedler_innen. Sie galt lange als die letzte noch überlebende Tasmanierin. Aus diesem Grund wurde sie 1866 für die Kolonialausstellung in Melbourne (Australien) fotografiert. Ihr Foto wurde zum musealen Beleg einer bereits nicht mehr existenten Kultur der Aborigenes Tasmaniens und galt als Dokumentation des Genozids durch Europäer_innen.