Noël Le Mire
Le premier baiser de l'amour (Der erste Kuss der Liebe), 1773
Über das Objekt
Diese Illustration zu Jean-Jacques Rousseaus Roman „La Nouvelle Héloïse“ (Die neue Héloïse) zeigt die junge Julie mit ihrem Geliebten Saint-Preux. Sie hat ihn in einen Park geführt und gibt ihm dort den ersten Kuss. Begleitet wird das junge Paar von Claire, Julies Cousine und treue Mitwisserin. Die effektvolle Illustration dieses entscheidenden Moments stammt aus Rousseaus Werkausgabe von 1774-1783. Sie trug wesentlich zur Berühmtheit dieser Romanszene bei.
„La Nouvelle Héloïse“ (Die neue Héloïse), eines der wichtigsten literarischen Werke der Aufklärung, erschien in zahlreichen illustrierten Ausgaben. Inspiriert durch die mittelalterliche Liebesgeschichte von Héloïse und Abélard, erzählt der Briefroman Jean-Jacques Rousseaus (1712-1778) in der Schweiz des frühen 18. Jahrhunderts von der leidenschaftlichen Liebe, die zwischen der jungen Adeligen Julie d’Étange und ihrem jungen, bürgerlichen Hauslehrer Saint-Preux aufflammt. Die gesellschaftlichen Konventionen verbieten ihnen, ihre Liebesbeziehung offen zu leben und zwingen sie zur Geheimhaltung. Julie, welche die Tugendhaftigkeit verkörpert, ist im Verlauf des gesamten Romans hin- und hergerissen zwischen ihrer Liebe und den Schuldgefühlen, die sie aufgrund der körperlichen Beziehung empfindet. Wegen eines Skandals verlässt Saint-Preux die Schweiz und geht nach Paris. Die Liebenden werden für mehrere Jahre getrennt und pflegen einen langen Briefwechsel, bis Julies Familie die Briefe entdeckt und sie zwingt, den Adeligen Herrn von Wolmar zu heiraten. Die junge Frau fügt sich und bricht mit Saint-Preux, der verzweifelt zu einer langen Seereise aufbricht. Obwohl Julie in der Ehe und Mutterschaft aufgeht, hat sie ihren alten Liebhaber nicht vergessen und gesteht ihrem Ehemann schließlich die verflossene Beziehung. Dieser zeigt sich überhaupt nicht eifersüchtig, lädt Saint-Preux bei dessen Rückkehr ein und sichert ihm seine Freundschaft zu. Es folgt ein glückliches gemeinsames Leben bis zu Julies tragischem Tod durch die Folgen eines Unfalls. Seit seiner Veröffentlichung 1761 erlebte dieser Roman der Vorromantik, der dem Edelmut den Vorrang vor dem sozialen Status einräumt, einen enormen Erfolg. Bereits die erste Ausgabe des Romans wurde begleitet von einer Folge von 12 Illustrationen Gravelots (1699-1773), die eine dichte Komposition aufweisen und nach den sogenannten “Sujets d’estampes“ (“Bildmotive“) von 1761 radiert wurden. Hierbei handelte es sich um die ikonographischen Angaben Rousseaus, die präzise die darzustellenden Szenen beschreiben. Für die Ausgabe der gesammelten Werke des Autors von 1774 fertigte Moreau le Jeune eine neue Illustrationsfolge zur Erzählung an (12 Bilder und ein Frontispiz). Obwohl sie sich von den genauen Vorgaben des Autors löst, wurde diese Folge oft als besonders gelungene graphische Umsetzung des Textes angesehen. Moreau le Jeune unternahm nicht den Versuch, die psychologische Tiefe der „Nouvelle Héloïse“ zum Ausdruck zu bringen, sondern wählte stattdessen hochdramatische Szenen, deren Handlung der Leser leicht wiedererkennen konnte: den Streit zwischen Saint-Preux und seinem Freund Lord Edouard oder die Ohrfeige, die Julie von ihrem Vater bekommt. Der Künstler setzt diese Episoden theatralisch in Szene, indem er die emotionale Intensität durch besonders ausdrucksstarke Gesten und Haltungen unterstreicht. Durch die systematische Verwendung von Hell-Dunkel-Effekten gelingt ihm eine bemerkenswerte Steigerung der Dramatik. Das berühmteste Blatt der Folge ist unbestritten „Le premier baiser de l’amour“ (Der erste Kuss der Liebe). Es stellt die von Saint-Preux zu Beginn des Romans emotional geschilderte Szene dar (I. Teil, Brief 14): Julie führt ihren Geliebten in ein Wäldchen, küsst ihn und sinkt dann ohnmächtig in die Arme ihrer Cousine und treuen Mitwisserin Claire. Während Rousseau Gravelot die Anweisung gegeben hatte, die in Ohnmacht fallende Julie darzustellen, wählte Moreau den Moment des Kusses selbst. Die Komposition, die wirkungsvoll den Liebesrausch der Figuren andeutet und bereits ihre körperliche Verbindung ankündigt, trug mit dazu bei, dass diese Romanszene zu einer der berühmtesten jener Zeit wurde. Moreau le Jeune bietet mit dieser graphischen Folge eine besonders lebendige und dramatische Interpretation der „Nouvelle Héloïse“, die dem im Laufe des Jahrhunderts immer weiter zunehmenden Faible für pathetische Darstellungen entspricht. Text: Hélène Iehl Übersetzt aus dem Französischen von: T
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Literaturhinweise
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