Vor über 100 Jahren reiste der Ethnologe Theodor-Koch-Grünberg (1872 - 1924) vom Roroima bis zum Orinoco. Ein Teil der Sammlung, die der renommierte Südamerikaforscher während dieser Zeit zusammentrug, wird in der Ethnologischen Sammlung des Museum Natur und Mensch verwahrt.
Eine Sammlung "für Ihr Museum bestimmt"
"[nach] einer Reise von zwei Monaten voll Gefahren und Strapazen auf diesem unbekannten Fluss befinde ich mich seit dem 28. vor[igen], Monats, in unserem primitiven Lager an dem kleinen linken Nebenflüßchen Aráká…"
Mit diesen Worten beginnt ein Brief Theodor Koch-Grünbergs an Hugo Ficke (1840 – 1912), den ersten Direktor des Museums für Natur- und Völkerkunde (heute Museum Natur und Mensch) in Freiburg.
Quelle: Stadtarchiv Freiburg, Sign. D.Sm. 32/1e
Es ist das Jahr 1912, das zweite Jahr seiner dritten Südamerika-Expedition, die Koch-Grünberg ins Grenzgebiet zwischen Nordbrasilien und Venezuela führt.
Von 1911 bis 1913 reiste der Südamerikaforscher Koch-Grünberg im Auftrag des Baessler-Instituts für das Ethnologische Museum zu Berlin vom Roroima-Berg (Venezuela) bis zum Orinoco Fluss (Brasilien). In dieser Zeit hielt er sich oft wochenweise und wiederkehrend in Dörfern indigener Gemeinschaften auf. Das Leben der Menschen hielt er auf vielfältige Weise fest: Neben Forschungstagebüchern, Wortlisten, Bild-, Film- und Tonaufnahmen, stellte er auch umfangreiche Sammlungen von Alltags- und Ritualobjekten zusammen. 300 "Nummern" davon bot Koch-Grünberg dem Museum in seinem Brief zum Kauf an, nachdem hohe Kosten ihn dazu veranlasst hätten, von einer kostenlosen Überlassung abzusehen. Ficke vermerkte auf dem Brief, dass das Museum kein Geld habe, um die 300 Gegenstände zu erwerben, er aber hoffe, dass im Folgejahr der Ankauf von 150 Objekten möglich sei. 1914 verzeichnet das Inventarbuch den Eingang einer Schenkung von Koch-Grünberg. Mit Ausnahme von zwei Objekten, die wohl von seiner zweiten Reise nach Südamerika stammen, hatte er die Objekte während eben dieser dritten Expedition u. a. von Taulipang (Pemón), Ye‘kuana, Wapishana und Yanomami erworben.
Quelle: Stadtarchiv Freiburg, Sign. D.Sm. 32/1e
Heute befinden sich noch 77 der ehemals 80 Gegenstände in der Ethnologischen Sammlung des Museums Natur und Mensch. Die Sammlung umfasst vor allem Korbwaren, Jagdutensilien, Körperschmuck, Instrumente, Haushaltsgegenstände und Werkzeuge.
Viele Objekte der Freiburger Sammlung sind im dritten Teil von Koch-Grünbergs fünfbändigen Werk "Vom Roroima bis zum Orinoco. Ergebnisse einer Reise in Nordbrasilien und Venezuela in den Jahren 1911 – 1913" in ihrer Nutzung beschrieben und auf Fotos oder durch Zeichnungen festgehalten.
Jagd- und Fischfangutensilien
"Der Fischfang spielt bei den Abteilungen des Stammes [Ye'kuana], die an den größeren Flüssen, Merewari, Ventuari, wohnen, naturgemäß eine wichtigere Rolle als bei den Bewohnern der Gebirge, in deren schmalen Gießbächen nur kleine Fische vorkommen.
Größere Fische werden gewöhnlich mit Bogen und Pfeil erlegt oder mit europäischen Angeln gefangen. Kleine Fische fängt man mit Käschern, die von derselben Beschaffenheit sind wie bei den Taulipáng (Pemón) und ihren Nachbarn."
Theodor Koch Grünberg. Vom Roroima zum Orinoco 3. Stuttgart, 1923, S. 342.
In seinen Reiseberichten beschreibt er auch vereinzelt, wie er Objekte erworben hat. Da Koch-Grünberg auch zu den ersten Ethnologen gehörte, die ihre Forschung durch Filmaufnahmen dokumentierten, sind einige Objekte, wie Federbälle, Maniokreiben, Schurze oder Trompeten in dem Film "Aus dem Leben der Taulipang in Guayana - Filmdokumente aus dem Jahre 1911" zu sehen.
Aus dem Leben der Taulipang in Guayana - Filmdokumente aus dem Jahre 1911 (IWF Göttingen)
Der Schlagball besteht aus den Hüllenblättern von Maiskolben. Der Ansatz wurde umwickelt und bildet eine Verdickung. Die überstehenden Blätter sind miteinander verflochten. Das populäre Spiel wurde von Knaben und jungen Männern gespielt, die im Kreis stehend, sich die Bälle mit der flachen Hand zuspielten. Dabei sollten die Bälle möglichst nicht den Boden berühren.
Mit der Publikation in der Online-Sammlung der Städtischen Museen Freiburg wird die Sammlung nun erstmals digital und umfassend zugänglich gemacht.
Maniokverarbeitung
Maniok gehört zu den wichtigsten Nahrungspflanzen der Taulipang (Pemón), Ye‘kuana, Wapishana und Yanomami. Die geriebene Masse wird mit einem Schlauch ausgepresst, um so den giftigen blausäurehaltigen Saft zu entfernen. Anschließend wird das Maniokmehl in der Sonne getrocknet und z.B. zu Maniokfladen gebacken.
Flechtarbeiten
Tanzfeste
Viele der von Koch-Grünberg auf seiner Reise gesammelten Objekte stehen in Zusammenhang mit Tanzfesten und -ritualen in denen mythische Ereignisse dargestellt und wiederholt werden.
Über einen besonderen Tanz - den Parischerá - schreibt Koch-Grünberg:
"Der beliebteste Tanz ist der Parischerá der Makuschi [Makushi] und Taulipang [Pemón], der Parischára der Wapischána [Wapishana]. Es ist eine Art Maskentanz. Die Tänzer kommen in langer Reihe hintereinander, den Oberkörper zur Seite gewendet, aus der Savanne Sie tragen eigentümliche, aus den Blättern der Inajápalme geflochtene Kopfbedeckungen, die das Gesicht zum Teil verhüllen und über der Stirn fächerförmig auseinanderstehen. Lange Gehänge aus demselben Material sind um den Leib gewickelt und verdecken die Beine bis herab auf die Füße. In der linken Hand halten sie Röhren aus leichtem Ambauvaholz, auf die vorn Brettchen mit allerhand buntbemalten Figuren, stilisierten Menschen und
Tierfiguren u. a., gesteckt sind, und entlocken ihnen dumpfheulende Laute, wobei sie die Instrumente auf- und abschwingen."Theodor Koch Grünberg. Vom Roroima zum Orinoco 3. Stuttgart, 1923, S. 157.
Leben und Wirken
Christian Theodor Koch wurde am 9. April 1872 in Grünberg (Hessen) geboren. Zunächst studierte er klassische Philologie, Geschichte, Deutsch und Geographie in Gießen und Tübingen, bevor er ab 1896 Latein, Griechisch, Geschichte und Deutsch an einem Gymnasium in Offenbach lehrte. Zwei Jahre darauf unterbrach er seine Lehrtätigkeit, um die Xingu-Expedition von Hermann Meyer (1871-1932) zu begleiten.
Zurückgekehrt von dieser, nahm er eine Stellung als Volontär und dann als wissenschaftlicher Hilfsarbeiter am Ethnologischen Museum zu Berlin an. Basierend auf Daten, die er während der Meyer-Expedition gesammelt hatte, promovierte er 1902 an der Universität Würzburg über Geschichte und Sprache der Chaco-Indianer.
1903 brach er wieder nach Südamerika auf, diesmal zu einer Reise nach Nordwest-Amazonien, die ihn u. a. an den Rio Negro und Vaupés führte.
Nach seiner Rückkehr 1905 begann er, Grünberg in seinem Namen zu führen. Bis 1909 arbeitete er weiter als Forschungsassistenz am Museum in Berlin. Im selben Jahr habilitierte er sich an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg. 1911 brach er abermals nach Südamerika auf, diesmal zu der Reise von der er die Sammlung des Museums Natur und Mensch mit zurückbrachte.
Nach seiner Rückkehr war er als außerordentlicher Professor für Völkerkunde an der Universität Freiburg tätig. Von 1915 bis 1924 übernahm er die Position des wissenschaftlichen Leiters des Linden-Museums in Stuttgart.
1924 nahm er das Angebot des US-amerikanischen Forschungsreisenden Alexander Hamilton Rice an (1875-1956) an, ihn bei einer Expedition durch das Orinoco-Bassin zu begleiten. Auf dieser Reise erkrankte Koch-Grünberg zum zweiten Mal in seinem Leben an Malaria.
Am 8. Oktober 1924 erlag er der Erkrankung in Vista Alegre, Brasilien. Seine Überreste sind in Manaus bestattet.
Rezeption und Bedeutung heute
Theodor Koch-Grünberg gilt als eine Größe seiner Zeit. Er führte umfangreiche Forschungen durch und stellte zahlreiche Sammlungen zusammen. Diese befinden sich heute u. a. in Belém (Brasilien), Berlin, Hamburg, Leipzig, Gießen, Grünberg und Freiburg. Er stand über seine Arbeit in Kontakt mit führenden Ethnologen und Südamerikawissenschaftlern. So unterhielt er beispielsweise Verbindungen zu Adolf Bastian, Franz Boas, Arnold van Gennep, Paul Rivet oder Curd Unke Nimuendajú. Einblicke in seine vielfältigen Kontakte bietet sein schriftlicher Nachlass, der sich am Fach Sozial- und Kulturanthropologie der Philipps-Universität Marburg befindet. Mit seinem umfangreichen Werk hat er wichtige Beiträge zur Ethnologie Brasiliens, Venezuelas und der Guyanas geleistet.
Er war auch ein methodischer Pionier, der seine Forschung systematisch durch Foto-, Ton- und Filmaufnahmen festhielt. Sein Werk dokumentiert daher nicht nur das soziale und kulturelle Leben der Gesellschaften, die er an der Schwelle zum 20. Jahrhundert besuchte, sondern erlaubt auch Beobachtungen über den Wandel von theoretischen Strömungen und Forschungsmethoden in der noch jungen Disziplin Völkerkunde/Ethnologie.
Nicht nur zum 150. Jubiläum seiner Geburt, inspirieren sein Leben und Werk immer wieder neuen wissenschaftlichen, musealen und künstlerischen Auseinandersetzungen.
Literaturhinweise und weiterführende Links
Koch-Grünberg, Theodor: Vom Roroima zum Orinoco. Ergebnisse einer Reise in Nordbrasilien und Venezuela in den Jahren 1911 – 1913. 5 Bände. Berlin: 1916-1923.
Zerries, Otto: Aus dem Leben der Taulipáng in Guayana. Filmdokumente aus dem Jahr 1911. Göttingen 1964.
Klänge und Bilder der Tropen. Ein Multimedia-Visionär im Urwald. Miradas alemanas hacia América Latina. Webseite des Ibero-Amerikanischen Instituts.
Kraus, Michael: Aus der Frühzeit des Homo Ethnologicus. Der Nachlass des Südamerikaforschers Theodor Koch-Grünberg. Webseite des Fachs Sozial- und Kulturanthropologie an der Philipps-Universität Marburg.
Autorin: Stefanie Schien